Sedimente
2022, FELD-Theater, Berlin
Research with Katri Saloniemi, Lucijan Busch & children from Schülerladen `Schnuppe´
For this research we worked with (memory) residues and secrets.
We recycled and transformed.
-> Trailer
Made possible by the support of Residenzförderung Tanz 2022 der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa.
2022, FELD-Theater, Berlin
Research with Katri Saloniemi, Lucijan Busch & children from Schülerladen `Schnuppe´
For this research we worked with (memory) residues and secrets.
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© Marta Maluva
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© Sedimente
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Genähte Geheimnisse
Andrej Mircev
Textilarbeiten wie auch das Schreiben entstehen durch Prozesse des Webens und Flechtens, ihnen ist also eine grundlegende stoffliche Materialität gemein. Beide Vorgänge überschneiden sich im Akt der Spurenlegung und Kerbung von Oberflächen, entfalten dadurch neue sinnliche Konstellationen, die zwischen Ornament und Lesbarkeit oszillieren. Unter dem Titel „Sedimente“ entwickelten Choreografin Lilly Pöhlmann und Bühnenbildnerin Katri Saloniemi im Rahmen ihrer Residenz im Berliner Feldtheater eine taktile und audiovisuelle Ausstellung, die sich mit diesen Verschränkungen auseinandersetzt. Dabei verfolgten sie einen innovativen, kreativen Ansatz, der künstlerische Recherche und partizipative Arbeit mit Kindern in einem disziplinübergreifenden Format vereint, indem darstellende und bildende Kunst in einen produktiven Dialog versetzt werden.
Thematisch fokussiert das Projekt die Übertragbarkeit unausgesprochener Erinnerungen und Geheimnisse in Texte und Stoffe, wodurch sowohl das Schreiben, als auch das Nähen eine tragende Rolle spielt. Autor*innen des in der Ausstellung verwendeten narrativen Materials, einer Ansammlung von Kurzerzählungen, sind Kinder, mit denen Pöhlmann und Saloniemi während der sechswöchigen Residenz im Feld Theater gearbeitet haben. Die Kinder wurden dazu angeregt, ihre Geheimnisse mit den Künstlerinnen zu teilen und anschließend diese Geschichten und Zeugnisse in kurze Textpassagen und Textilobjekte umzuwandeln. Zusätzlich arbeiteten Pöhlmann und Saloniemi mit alten ausgetragenen Kleidungstücken, die ästhetisch umfunktioniert wurden.
Auf diese Weise schärft die Ausstellung unseren Blick für die fragile Materialität von Erinnerungen und Archiven, die kein kohärentes Ganzes nachweisen, sondern von Lücken und Abwesenheiten durchdrungen sind. Indem das Projekt als ein imaginativ-performatives Sammeln von Erinnerungsstoffen, Bruchstücken, Gedankenabfällen und Überresten verwirklicht wird, richten die Künstlerinnen unser Augenmerk auf den Umgang mit geheimnisvollen Erzählungen, die jedem Archiv und jeder Geschichte immanent ist.
Die Zusammensetzung aus Sagbarem und Unsagbarem, welche die Dynamik von Archiven und Erinnerungen bestimmt, erweist sich als ausschlaggebend. Um diese konzeptuelle Vorgabe besser verstehen zu können, werde ich zuerst die visuell-räumliche Gestaltung und die Inszenierung der Texte kurz beschreiben.
Neben den zweidimensionalen Textilien inszenieren Pöhlmann und Saloniemi die Texte als kleine, dreidimensionale Objekte, von denen einige auf Faden befestigt sind und frei im Raum schweben. Dieser Vorgang erinnert an die Mobiles von Alexander Calder und was damit akzentuiert wird, ist die haptisch-taktile Dimension der Arbeit. Die Texte werden in die Stoffe eingewickelt und vor neugierigen Blicken versteckt. Die Kindergeheimnisse nehmen so die Form mysteriöser Amulette ein, die über eine imaginäre Kraft verfügen.
Die Textilien und Stoffe werden mit Erzählungen bestickt, wobeidas Schreiben als Auslegung von Fäden erfolgt, deren Linien zu Buchstaben und demzufolge zu Sätzen transformiert werden. Die Nadel figuriert als Stift, während der Faden als Tinte und grafischer Strich wirkt. Dadurch entstehen Schriftzüge, die von beiden Seiten wahrgenommen werden können. Allerdings offenbart die Rückseite keinen wirklich lesbaren Text. Obwohl sie visuell die Form einer Textstruktur haben, lassen sich die umgekehrten Buchstaben nur schwierig entschlüsseln und bleiben ein rätselhaftes Gewebe, das an alte Keilschrift, Hieroglyphen, oder Runen erinnert. Das schleierhafte Alphabet ist somit ein genuiner Ausdruck für die unlesbaren Geheimnisse, die die Kinder mit den Künstlerinnen geteilt haben. Im Hinblick auf den spezifischen gestalterisch-ästhetischen Vorgang, der Texte in bildschriftliche Sedimente verwandelt, liegt es nahe, die Stofflichkeit des Schreibens etwas genauer zu untersuchen.
Betrachtet man Schreiben als diejenige Aktivität, die Ereignisse hervorbringt und Räumlichkeit durch Differenz erzeugt, drängt sich die Frage nach der Beziehung zwischen Bewegung, Körper und Schrift auf. Solch ein körper- und bewegungszentriertes Schriftkonzept ermöglicht die Annahme, dass das Produzieren von Texten immer auch eine Arbeit des bewegenden und bewegten Körpers vorrausetzt. Wie der britische Anthropolog Tim Ingold in seinem Buch zur Geschichte der Linie feststellt, korrespondiert der Ablauf des Schreibens mit dem Hinterlassen von Spuren. Demzufolge wäre der primäre Schreibakt untrennbar mit dem Körper und seiner Mobilität verbunden. Dies ist wieder der Punkt, in dem sich das Schreiben und die Handlung des Webens überlagern: die Materialität der Linie, die sich auf einer Oberfläche ausbreitet.
Als Hauptelemente der Gestaltung figurieren die stofflichen Linien in der Ausstellung als visuelles Mittel, das eine ambivalente Funktion hat. Einerseits verkörpern die Linien jene Schriften, die lesbar sind und narrative Fäden entfalten. Anderseits handelt es sich um bildhafte Strukturen, die sich der Lesbarkeit entziehen und stattdessen visuelle Zeichen multiplizieren, deren Sinn und Bedeutung jenseits von Text und Übertragung sprachlicher Information liegt. Präziser formuliert, das Oszillieren der Linien zwischen Lesbarkeit und reiner Ornamentik ermöglicht die aktive Arbeit der Einbildungskraft, die aus den Fetzen, losen Faden und Stofffragmenten andere Narrationen und Bedeutungen hervorbringen kann. Die besticken Kindergeheimnisse werden somit zu Katalysatoren neuer Erzählungen, die sich zwischen Bild und Text sowie zwischen Erinnerung und Fiktion bewegen.
Die neuere Literatur- bzw. Kulturforschung zum Phänomen der Schriftbildlichkeit hat einen Perspektivenwechsel initiiert, der die Verknüpfung von Sprachlichem und Bildlichem anvisiert. Was dabei zum Ausdruck kommt, ist die Bedeutung der Räumlichkeit bzw. Zwischenräumlichkeit. In dem einleitenden Text zum Buch „Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen“, notieren Sybille Krämer und Rainer Totzke: „Jede Schrift nutzt die Vertikale und Horizontale: Wir – zum Beispiel – schreiben von links nach rechts und von oben nach unten; doch jede andere Kombination ist ebenfalls möglich. Anderseits ist das die Relation zwischen Nutzer und Schriftfläche: beschriebene Flächen haben eine Ausrichtung. Diese gemahnt an die Rolle, welche Orientierung (‚orientare‘ einosten) an Himmelsrichtungen in der Konstruktion und Rezeption von geographischen Karten spielt. Auch ein beschriebenes Blatt ist orientiert. Drehen wir es und verändern wir damit seine körperbezogene Ausrichtung, wird es unlesbar (…)“ (Krämer/Trotzke 2011: 17)
Indem sie die bestickten Texte und Textilien umdrehen, erzeugen die Künstlerinnen jene Desorientierung der Schrift, wodurch die Lineatur und Graphismus des Schriftmediums ausgestellt und veranschaulicht werden. Wie Krämer und Totzke argumentieren, steht die Lineatur der Schrift auf der Schwelle zwischen dem Sinnlichen und dem Sinn, zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen. Sie bildet eine Kontaktzone der beiden Sphären. Damit verbunden ist die Erzeugung von Kippfiguren, die dadurch gekennzeichnet sind, dass man in ein und derselben Zeichnung, in unserem Fall Textgewebe, zwei unterschiedliche Gestalten sehen kann.
Die Kippfigur, die der Schrift eigen ist, kommt weiterhin zum Ausdruck in der Unterscheidung zwischen Textur und Textualität. Diesbezüglich stellen Krämer und Totzke fest: „während zur Textur alles zählt, was mit Materialität, Wahrnehmbarkeit und Handhabbarkeit von Notationen zu tun hat, bezieht sich die Textualität auf die Bedeutungsdimension und Interpretierbarkeit von Schriften.“ (Krämer/Trotzke 2011: 24) Die Differenz von Textur und Textualität lässt sich daher als Unterschied zwischen dem, was man sieht und dem, wie man interpretiert, verstehen. In Bezug zur Ausstellung markiert diese Differenz die unterschiedlichen Ausrichtungen der Textoberflächen, die einerseits den lesbaren Text zeigen und andererseits seine stoffliche Lineatur der Fadenstrukturen offenlegen.
Das Textgewebe der Ausstellung evoziert weiterhin die Struktur einer imaginären Landschaft, deren Grenzen verschwommen und unscharf sind. Aufgrund der häufigen Überlagerungen des Stoffes und zahlreichen Falten, erinnern die Textilien an topografische Kartendarstellungen, die Verkehrsknoten und Wege markieren. Beim Betrachten dieser palimpsestartigen Textilwelten hat man den Eindruck, die Lineatur versetze ihre Betracht*innen auf eine Reise, deren Ziel nicht mit der Karte übereinstimmt, sondern außerhalb der stofflichen Oberfläche platziert oder auf der anderen Seite des Textils zu finden ist. „Sedimente“ sind somit eine metaphorische Spurensuche nach verkleideten Erzählungen, unausgesprochenen Geschichten, die sich in den Faltungen eingeschrieben haben und einen kartografischen Blick herausfordern.
Die Ansicht des umgekehrten Schriftbilds vermittelt dazu assoziativ den Eindruck einer choreografischen Partitur, anhand derer sich hypothetische Tanzbewegungen rekonstruieren lassen. In Anlehnung an die bisherigen Betrachtungen, würde ich behaupten, dass die Ausstellung einen erweiterten Schriftbegriff auslegt, der es ermöglicht, Schriftlichkeit ebenfalls in Bezug zum Tanz bzw. choreografischer Arbeit zu denken. Diesen Gedanken und Assoziationen folgend, nehme ich die Stoffsedimente als Notationen von Geheimnissen wahr, die zwar aufgeschrieben sind, aber vielleicht erst durch eine tänzerische Geste verkörpert und kommuniziert werden können. Somit transformiert die Ausstellung die Textspuren in potentielle Partituren eines Tanzes, der noch nicht existiert, deren Schritte aber durch die verdrehte Schrift aufgezeichnet und suggeriert werden.
In seinem luziden Buch über die (un)mögliche Analogisierung von Tanz und Schrift, Bewegung und Schreiben, erforscht der Tanzwissenschaftler und Theologe Alexander H. Schwann die Berührungspunkte zwischen Körper und Text. Als Ausgangspunkt dient ihm dabei die Denkfigur des écriture corporelle von Stéphane Mallarmé, die den Tanz als temporäre Inskription aufgreift und Tanzen in eine Analogie zum Schreibvorgang setzt. Wie Schwann allerdings zeigt, würde eine vollständige Verschränkung von Tanz und Text zu kurz greifen, da der tanzende Körper keine lesbare Schrift produziert. Er bemerkt: „Tanz als écriture corporelle ist daher immer auf Kritzeln bezogen als den diffusen Rand von Schriftbildlichkeit, als das An- dere sowohl von Schrift als auch von Bild, denn zu keinem der beiden Bereiche gehört die Kritzelei ganz. Sie ist vielmehr ein schriftbildliches Schwellenphänomen (…)“ (Schwann 2022: 289)
Als Archiv von Textgeweben, überlagerten Schriftspuren, abgebrochenen Faden und stofflichen Kritzeleien, mäandriert die Ausstellung „Sedimente“ zwischen einer haptischen Installation aus greifbaren Objekten, imaginären Tanzpartituren und Vexierbildern, in deren Falten eine verborgene Welt versteckt ist. Unausgesprochene Erinnerungen werden überlagert, narrative verstrickt und Lücken evoziert. Die Künstlerinnen erzeugen somit einen mehrschichtigen Raum, dessen verwobene Lineaturen in alle Richtungen wuchern und Schriftzuge in Bilder bzw. Ornamente transformieren. Darüber hinaus ist die Ausstellung ein performativer Spielraum, der aus Geheimnissen Bewegungsmustern erzeugt, in deren Rhythmus Erwachsene wieder zu Kinder werden.
Literatur:
Tim Ingold, Lines: A Brief History, Routledge, 2007
Sybille Krämer/ Rainer Totzke, u.a. (Hrsg.), Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, de Gruyter, 2012
Alxeander H. Schwan, Schrift im Raum: Korrelationen von Tanzen und Schreiben bei Trisha Brown, Jan Fabre und William Forsythe, Transcript Verlag, 2022
Andrej Mircev
Textilarbeiten wie auch das Schreiben entstehen durch Prozesse des Webens und Flechtens, ihnen ist also eine grundlegende stoffliche Materialität gemein. Beide Vorgänge überschneiden sich im Akt der Spurenlegung und Kerbung von Oberflächen, entfalten dadurch neue sinnliche Konstellationen, die zwischen Ornament und Lesbarkeit oszillieren. Unter dem Titel „Sedimente“ entwickelten Choreografin Lilly Pöhlmann und Bühnenbildnerin Katri Saloniemi im Rahmen ihrer Residenz im Berliner Feldtheater eine taktile und audiovisuelle Ausstellung, die sich mit diesen Verschränkungen auseinandersetzt. Dabei verfolgten sie einen innovativen, kreativen Ansatz, der künstlerische Recherche und partizipative Arbeit mit Kindern in einem disziplinübergreifenden Format vereint, indem darstellende und bildende Kunst in einen produktiven Dialog versetzt werden.
Thematisch fokussiert das Projekt die Übertragbarkeit unausgesprochener Erinnerungen und Geheimnisse in Texte und Stoffe, wodurch sowohl das Schreiben, als auch das Nähen eine tragende Rolle spielt. Autor*innen des in der Ausstellung verwendeten narrativen Materials, einer Ansammlung von Kurzerzählungen, sind Kinder, mit denen Pöhlmann und Saloniemi während der sechswöchigen Residenz im Feld Theater gearbeitet haben. Die Kinder wurden dazu angeregt, ihre Geheimnisse mit den Künstlerinnen zu teilen und anschließend diese Geschichten und Zeugnisse in kurze Textpassagen und Textilobjekte umzuwandeln. Zusätzlich arbeiteten Pöhlmann und Saloniemi mit alten ausgetragenen Kleidungstücken, die ästhetisch umfunktioniert wurden.
Auf diese Weise schärft die Ausstellung unseren Blick für die fragile Materialität von Erinnerungen und Archiven, die kein kohärentes Ganzes nachweisen, sondern von Lücken und Abwesenheiten durchdrungen sind. Indem das Projekt als ein imaginativ-performatives Sammeln von Erinnerungsstoffen, Bruchstücken, Gedankenabfällen und Überresten verwirklicht wird, richten die Künstlerinnen unser Augenmerk auf den Umgang mit geheimnisvollen Erzählungen, die jedem Archiv und jeder Geschichte immanent ist.
Die Zusammensetzung aus Sagbarem und Unsagbarem, welche die Dynamik von Archiven und Erinnerungen bestimmt, erweist sich als ausschlaggebend. Um diese konzeptuelle Vorgabe besser verstehen zu können, werde ich zuerst die visuell-räumliche Gestaltung und die Inszenierung der Texte kurz beschreiben.
Neben den zweidimensionalen Textilien inszenieren Pöhlmann und Saloniemi die Texte als kleine, dreidimensionale Objekte, von denen einige auf Faden befestigt sind und frei im Raum schweben. Dieser Vorgang erinnert an die Mobiles von Alexander Calder und was damit akzentuiert wird, ist die haptisch-taktile Dimension der Arbeit. Die Texte werden in die Stoffe eingewickelt und vor neugierigen Blicken versteckt. Die Kindergeheimnisse nehmen so die Form mysteriöser Amulette ein, die über eine imaginäre Kraft verfügen.
Die Textilien und Stoffe werden mit Erzählungen bestickt, wobeidas Schreiben als Auslegung von Fäden erfolgt, deren Linien zu Buchstaben und demzufolge zu Sätzen transformiert werden. Die Nadel figuriert als Stift, während der Faden als Tinte und grafischer Strich wirkt. Dadurch entstehen Schriftzüge, die von beiden Seiten wahrgenommen werden können. Allerdings offenbart die Rückseite keinen wirklich lesbaren Text. Obwohl sie visuell die Form einer Textstruktur haben, lassen sich die umgekehrten Buchstaben nur schwierig entschlüsseln und bleiben ein rätselhaftes Gewebe, das an alte Keilschrift, Hieroglyphen, oder Runen erinnert. Das schleierhafte Alphabet ist somit ein genuiner Ausdruck für die unlesbaren Geheimnisse, die die Kinder mit den Künstlerinnen geteilt haben. Im Hinblick auf den spezifischen gestalterisch-ästhetischen Vorgang, der Texte in bildschriftliche Sedimente verwandelt, liegt es nahe, die Stofflichkeit des Schreibens etwas genauer zu untersuchen.
Betrachtet man Schreiben als diejenige Aktivität, die Ereignisse hervorbringt und Räumlichkeit durch Differenz erzeugt, drängt sich die Frage nach der Beziehung zwischen Bewegung, Körper und Schrift auf. Solch ein körper- und bewegungszentriertes Schriftkonzept ermöglicht die Annahme, dass das Produzieren von Texten immer auch eine Arbeit des bewegenden und bewegten Körpers vorrausetzt. Wie der britische Anthropolog Tim Ingold in seinem Buch zur Geschichte der Linie feststellt, korrespondiert der Ablauf des Schreibens mit dem Hinterlassen von Spuren. Demzufolge wäre der primäre Schreibakt untrennbar mit dem Körper und seiner Mobilität verbunden. Dies ist wieder der Punkt, in dem sich das Schreiben und die Handlung des Webens überlagern: die Materialität der Linie, die sich auf einer Oberfläche ausbreitet.
Als Hauptelemente der Gestaltung figurieren die stofflichen Linien in der Ausstellung als visuelles Mittel, das eine ambivalente Funktion hat. Einerseits verkörpern die Linien jene Schriften, die lesbar sind und narrative Fäden entfalten. Anderseits handelt es sich um bildhafte Strukturen, die sich der Lesbarkeit entziehen und stattdessen visuelle Zeichen multiplizieren, deren Sinn und Bedeutung jenseits von Text und Übertragung sprachlicher Information liegt. Präziser formuliert, das Oszillieren der Linien zwischen Lesbarkeit und reiner Ornamentik ermöglicht die aktive Arbeit der Einbildungskraft, die aus den Fetzen, losen Faden und Stofffragmenten andere Narrationen und Bedeutungen hervorbringen kann. Die besticken Kindergeheimnisse werden somit zu Katalysatoren neuer Erzählungen, die sich zwischen Bild und Text sowie zwischen Erinnerung und Fiktion bewegen.
Die neuere Literatur- bzw. Kulturforschung zum Phänomen der Schriftbildlichkeit hat einen Perspektivenwechsel initiiert, der die Verknüpfung von Sprachlichem und Bildlichem anvisiert. Was dabei zum Ausdruck kommt, ist die Bedeutung der Räumlichkeit bzw. Zwischenräumlichkeit. In dem einleitenden Text zum Buch „Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen“, notieren Sybille Krämer und Rainer Totzke: „Jede Schrift nutzt die Vertikale und Horizontale: Wir – zum Beispiel – schreiben von links nach rechts und von oben nach unten; doch jede andere Kombination ist ebenfalls möglich. Anderseits ist das die Relation zwischen Nutzer und Schriftfläche: beschriebene Flächen haben eine Ausrichtung. Diese gemahnt an die Rolle, welche Orientierung (‚orientare‘ einosten) an Himmelsrichtungen in der Konstruktion und Rezeption von geographischen Karten spielt. Auch ein beschriebenes Blatt ist orientiert. Drehen wir es und verändern wir damit seine körperbezogene Ausrichtung, wird es unlesbar (…)“ (Krämer/Trotzke 2011: 17)
Indem sie die bestickten Texte und Textilien umdrehen, erzeugen die Künstlerinnen jene Desorientierung der Schrift, wodurch die Lineatur und Graphismus des Schriftmediums ausgestellt und veranschaulicht werden. Wie Krämer und Totzke argumentieren, steht die Lineatur der Schrift auf der Schwelle zwischen dem Sinnlichen und dem Sinn, zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen. Sie bildet eine Kontaktzone der beiden Sphären. Damit verbunden ist die Erzeugung von Kippfiguren, die dadurch gekennzeichnet sind, dass man in ein und derselben Zeichnung, in unserem Fall Textgewebe, zwei unterschiedliche Gestalten sehen kann.
Die Kippfigur, die der Schrift eigen ist, kommt weiterhin zum Ausdruck in der Unterscheidung zwischen Textur und Textualität. Diesbezüglich stellen Krämer und Totzke fest: „während zur Textur alles zählt, was mit Materialität, Wahrnehmbarkeit und Handhabbarkeit von Notationen zu tun hat, bezieht sich die Textualität auf die Bedeutungsdimension und Interpretierbarkeit von Schriften.“ (Krämer/Trotzke 2011: 24) Die Differenz von Textur und Textualität lässt sich daher als Unterschied zwischen dem, was man sieht und dem, wie man interpretiert, verstehen. In Bezug zur Ausstellung markiert diese Differenz die unterschiedlichen Ausrichtungen der Textoberflächen, die einerseits den lesbaren Text zeigen und andererseits seine stoffliche Lineatur der Fadenstrukturen offenlegen.
Das Textgewebe der Ausstellung evoziert weiterhin die Struktur einer imaginären Landschaft, deren Grenzen verschwommen und unscharf sind. Aufgrund der häufigen Überlagerungen des Stoffes und zahlreichen Falten, erinnern die Textilien an topografische Kartendarstellungen, die Verkehrsknoten und Wege markieren. Beim Betrachten dieser palimpsestartigen Textilwelten hat man den Eindruck, die Lineatur versetze ihre Betracht*innen auf eine Reise, deren Ziel nicht mit der Karte übereinstimmt, sondern außerhalb der stofflichen Oberfläche platziert oder auf der anderen Seite des Textils zu finden ist. „Sedimente“ sind somit eine metaphorische Spurensuche nach verkleideten Erzählungen, unausgesprochenen Geschichten, die sich in den Faltungen eingeschrieben haben und einen kartografischen Blick herausfordern.
Die Ansicht des umgekehrten Schriftbilds vermittelt dazu assoziativ den Eindruck einer choreografischen Partitur, anhand derer sich hypothetische Tanzbewegungen rekonstruieren lassen. In Anlehnung an die bisherigen Betrachtungen, würde ich behaupten, dass die Ausstellung einen erweiterten Schriftbegriff auslegt, der es ermöglicht, Schriftlichkeit ebenfalls in Bezug zum Tanz bzw. choreografischer Arbeit zu denken. Diesen Gedanken und Assoziationen folgend, nehme ich die Stoffsedimente als Notationen von Geheimnissen wahr, die zwar aufgeschrieben sind, aber vielleicht erst durch eine tänzerische Geste verkörpert und kommuniziert werden können. Somit transformiert die Ausstellung die Textspuren in potentielle Partituren eines Tanzes, der noch nicht existiert, deren Schritte aber durch die verdrehte Schrift aufgezeichnet und suggeriert werden.
In seinem luziden Buch über die (un)mögliche Analogisierung von Tanz und Schrift, Bewegung und Schreiben, erforscht der Tanzwissenschaftler und Theologe Alexander H. Schwann die Berührungspunkte zwischen Körper und Text. Als Ausgangspunkt dient ihm dabei die Denkfigur des écriture corporelle von Stéphane Mallarmé, die den Tanz als temporäre Inskription aufgreift und Tanzen in eine Analogie zum Schreibvorgang setzt. Wie Schwann allerdings zeigt, würde eine vollständige Verschränkung von Tanz und Text zu kurz greifen, da der tanzende Körper keine lesbare Schrift produziert. Er bemerkt: „Tanz als écriture corporelle ist daher immer auf Kritzeln bezogen als den diffusen Rand von Schriftbildlichkeit, als das An- dere sowohl von Schrift als auch von Bild, denn zu keinem der beiden Bereiche gehört die Kritzelei ganz. Sie ist vielmehr ein schriftbildliches Schwellenphänomen (…)“ (Schwann 2022: 289)
Als Archiv von Textgeweben, überlagerten Schriftspuren, abgebrochenen Faden und stofflichen Kritzeleien, mäandriert die Ausstellung „Sedimente“ zwischen einer haptischen Installation aus greifbaren Objekten, imaginären Tanzpartituren und Vexierbildern, in deren Falten eine verborgene Welt versteckt ist. Unausgesprochene Erinnerungen werden überlagert, narrative verstrickt und Lücken evoziert. Die Künstlerinnen erzeugen somit einen mehrschichtigen Raum, dessen verwobene Lineaturen in alle Richtungen wuchern und Schriftzuge in Bilder bzw. Ornamente transformieren. Darüber hinaus ist die Ausstellung ein performativer Spielraum, der aus Geheimnissen Bewegungsmustern erzeugt, in deren Rhythmus Erwachsene wieder zu Kinder werden.
Literatur:
Tim Ingold, Lines: A Brief History, Routledge, 2007
Sybille Krämer/ Rainer Totzke, u.a. (Hrsg.), Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, de Gruyter, 2012
Alxeander H. Schwan, Schrift im Raum: Korrelationen von Tanzen und Schreiben bei Trisha Brown, Jan Fabre und William Forsythe, Transcript Verlag, 2022